Liebe Denise,
ich war 18, als ich von Zuhause auszog.
Meine Eltern waren bei Verwandten in Berlin. Ich hatte meine Ausbildung gerade abgeschlossen, wurde in der Kanzlei als Angestellte übernommen und entschied von heute auf morgen auszuziehen.
Damals schaute man noch in die Zeitung… Annoncen nannte man das… Wohnungsannoncen? Heißt das eigentlich immer noch so?
Jedenfalls fand ich auf Anhieb eine kleine Wohnung, besichtigte sie und unterschrieb den Mietvertrag. Meine Eltern setzte ich telefonisch darüber in Kenntnis, während sie noch in Berlin waren. Es vergingen 5 weitere Tage und dann war ich ausgezogen… und kam auch nie wieder zurück.
Ich versuche mich mal zu erinnern, was ich gefühlt habe… Also ich glaube, es war eine Art Stolz, Freude und auch ein wenig der berühmte Mittelfinger, den man den Eltern gern mal zeigen möchte. Vermutlich kennen wir das alle.
Es war keine ganz einfache Wohnsituation Zuhause, weil meine Schwester und ich ein klitzekleines Zimmer gemeinsam hatten und dazwischen lagen auch noch 6 Jahre Altersunterschied. Ich war aus der Pubertät raus, sie gerade mittendrin. Das Drama kann man sich ungefähr vorstellen.
Meine Eltern haben damals versucht alles zu geben, eine Wohnung zu finden, in der jede von uns ihr eigenes Zimmer hat, aber das war nach der Wende ein Ding der Unmöglichkeit im Westen unseres Landes.
Ich bin wirklich fest davon überzeugt, dass ich deutlich länger Zuhause wohnen geblieben wäre, wenn ich einen Rückzugsort für mich gehabt hätte. Ich ging zu diesem Zeitpunkt schon ganz normal arbeiten, hatte einen Freund und habe von Zuhause nicht mehr viel mitbekommen. Ich blieb weg, weil die Zimmersituation und der Altersunterschied mit meiner Schwester, in dieser Phase meines Leben, wirklich miteinander kollidierten. Dafür konnte niemand was… das lag einfach in der Natur der Sache.
Das war aber eine Zeit, in der ich mich sehr von meinen Eltern entfernte und es hat auch lange gedauert, bis sich das wieder normalisierte. Ich würde sogar sagen, so lange bis ich selber Mutter wurde… da war ich dann 28.
Ich habe meine Mama nie gefragt, wie das eigentlich für sie war. Als ich von heute auf morgen ging. Ich glaube, ich war sogar ein Stück wütend damals. Ich hatte das Gefühl, ich ging wegen meiner Schwester und das niemand so richtig verstand, warum ich das tat. Vermutlich habe ich mir sogar gewünscht, dass meine Mama mich aufhält, aber das passierte nicht… ich würde Luca heute auch nicht aufhalten, wenn er gehen wollen würde.
Mein Sohn ist fast 15. Die Kinder meiner Freunde sind in einem ähnlichen Alter und wir alle beschäftigen uns gerade mit dem „Loslassen“. Dem „Loslassen“ unserer Kinder und das, was damit einhergeht…
dem Abschied vom gebraucht werden…
Eine Freundin sagte mir gestern, vermutlich hat die Natur es bewusst so eingerichtet, dass Teenager sich oft so richtig bescheuert und egoistisch verhalten, damit es für uns einfacher wird aus der Mutterrolle herauszutreten.
Ich beobachte das ganz oft bei meinem Sohn, den ich einfach großartig finde… aber Teenager nehmen fast nur ihr eigenes, kleines Universum wahr und bekommen gar nicht mit, dass die Mama heulend im stillen Kämmerlein steht und sich fragt, ob sie einfach wirklich alles falsch gemacht hat in der Erziehung und am liebsten abhauen möchte.
Wenn ich mich heute also – hin und wieder – auf den Gedanken einlasse, dass mein Sohn irgendwann das Weite sucht und dieser Moment liegt zum Greifen nah, dann fühle ich Schwere und Trauer und Angst. Es ist noch nicht mal eingetreten und ich fühle das jetzt schon. Irre oder?
Ich habe also eine ungefähre Vorstellung davon, wie es für meine Mama gewesen sein muss. Als Kind denkt man immer, Eltern sind unverwundbar, sie sterben nicht und haben keinen Sex. Also habe ich, folglich, auch nicht darüber nachgedacht, dass ich sie verletzen könnte. Für mich ging es damals nur um mich und MEIN! Gefühl.
Vielleicht wäre es gut gewesen, wenn sie mir damals gesagt hätte… in einer ruhigen Minute… das ich sie verletze, dass es sie schmerzt, ihre Tochter zu verlieren. Aber wir kommen aus unterschiedlichen Generationen. Ich kann mich nicht erinnern, dass Frauen damals so offen über ihre Gefühle oder Gedanken gesprochen hätten. Wirklich darüber zu sprechen, dass es eine ganze Menge mit einem macht, wenn die Kinder das Haus verlassen.
Dabei ist das eine sehr einschneidende Phase im Leben einer Frau und wirkt sich nicht selten auf die damit verbundene Partnerschaft aus. In dieser Phase des Lebens gehen die meisten Ehen den Bach runter. Im Übrigen sind meine Eltern noch verheiratet und das macht mich verdammt glücklich.
Manchmal, also wirklich sehr sehr selten… meist in Streitgesprächen – kam ein versteckter Vorwurf meiner Mama über die Situation damals, als ich 18 war. Das ist immer ein Moment, in dem mir bewusst wird, wie tief das sitzt und das ich ganz schön was ausgelöst haben muss. Aber das war mir mit 18 Jahren nicht mal annähernd bewusst. Es hat fast weitere 20 Jahre gebraucht um mich hineinfühlen zu können und das kann ich auch nur, weil ich eben selbst Mama bin und heute in einer ähnlichen Situation.
Letztens sprach ich mit meiner Freundin Britta darüber. Sie ist Mama von 4 Kindern und stirbt jetzt schon jedes Jahr kleine „Abschiedstode“ und das obwohl ihr Jüngster gerade mal 5 ist. Sie war es auch, die mich auf dieses „Briefthema“ brachte, weil wir uns immer wieder mit dem Gedanken des „nicht mehr gebraucht Werdens“ beschäftigen.
Das bedeutet überhaupt nicht, dass wir heulend in der Ecke sitzen und den lieben langen Tag rumjammern… sondern das wir uns damit auseinandersetzen, was der Inhalt unseres Lebens – nach unseren Kindern – sein soll.
Ich hätte früher darüber gelächelt. Weil ich es nicht verstanden hätte.
Was zur Hölle soll sich denn dann ändern?
Aber die Zeit mit unseren Kindern ist super intensiv. Es ist die Zeit der allergrößten Liebe, der allergrößten Sorgen und des allergrößten Verzichts. Wir würden für unsere Kinder durchs Feuer gehen. Das, dass wirklich so ist, wurde mir in dem Moment klar, als ich meinen Sohn zum ersten Mal im Arm hielt.
Es ist so befreiend von anderen Frauen und Müttern zu hören, dass es ihnen ähnlich geht, dass sie ähnlich fühlen, dass es der immer gleiche Schmerz ist, mit dem man sich da auseinandersetzt und der so viel Veränderung mit sich bringt. Ich hab lange gedacht, ich wäre verrückt… unnormal… das es doch klar ist, das Kinder gehen… muss man sich halt nur drauf einstellen.
Für mich ist das ein absolut präsentes Thema, weil ich bereits jetzt die Weichen für dieses Leben nach dieser intensiven Mama-Zeit stelle. Jetzt schon anfange wieder egoistischer zu sein, mich den Dingen widme, die mich erfüllen und auch ausfüllen. Wir alle brauchen eine Aufgabe, einen Sinn für unsere Existenz, alles andere macht krank und das ist etwas, was ich während meiner Depressionen schmerzvoll habe erfahren müssen.
Wir Frauen haben aber manchmal auch echt die Arschkarte oder? Haben wir uns mit dieser Thematik angefreundet, stehen die Wechseljahre vor der Tür… ich bin sehr gespannt, ob wir uns dann immer noch Briefe schreiben Denise. Irgendwie ist man ab Ü40 auch immer wieder mit dem Thema „Abschied“ konfrontiert und Abschied ist immer ein emotional, tiefgreifendes Erlebnis… mal mehr, mal weniger intensiv.
Heute, also knapp 24 Jahre nach meinem Auszug von Zuhause, kann ich meiner Mama folgendes sagen:
Es tut mir leid. Ich weiß heute, wie schmerzhaft das für dich war. Ich wusste es damals einfach nur nicht besser.
Vor 2 Wochen war ich mit Karin und Dani auf einer Veranstaltung in Leipzig. Eine junge Frau, 28 war sie, hielt einen Vortrag. Sie bereist die Welt und begibt sich auf gefährliche Expeditionen mit dem Fahrrad. Ihre Mama saß im Publikum.
Jedenfalls bedankte sich die junge Frau bei ihrer Mama. Ich fühlte mich sehr verbunden, weil die Mama auch alleinerziehend war. Sie sagte, dass ihr bewusst sei, welche Sorgen sie ihrer Mutter bereiten würde, dass sie aber keinesfalls so eine starke Frau sein würde, wenn ihrer Mutter nicht genau so wäre, wie sie eben wäre (innerlich habe ich geweint und bete darum, dass Luca mir mal vor Publikum so einen Vortrag hält...).
Meine Mama hat das beste gemacht, was sie tun konnte… mich ziehen lassen. Ich bin zwar nie wieder Zuhause eingezogen, aber ich bin „zurückgekommen“ und das ist alles, was zählt.
Ich halte auch keine Vorträge über gefährliche Fahrradexpeditionen, aber das hier, also dieser Brief, ist meine kleine Bühne, meine Gedanken offen auszusprechen.
Wie sehr die Thematik der Veränderung, Frauen unseres Alters umtreibt, sehe ich an der immer besser funktionierenden Gemeinschaft unter uns und das wir angetrieben sind davon unser Leben, auch nach dem alltäglichen Familienwahnsinn, schön und sinnvoll und wunderbar zu gestalten.
Für mich ist das kein Prozess, den ich jeden Tag bewusst antreibe oder im Detail durchdenke. Es fühlt sich eher an, wie kleine Rädchen, die ineinandergreifen und sich von mal zu mal schneller drehen und immer besser miteinander funktionieren.
Meine Angst… vor diesem Tag… wenn Luca mal geht… nimmt mir das nicht. Ich wollte schon so oft die Zeit anhalten und das alles so bleibt, wie es gerade ist. Aber ich bin ein bisschen, wenigstens ein bisschen, darauf vorbereitet.
Kennst Du noch diese Menschen, die einem vor der Geburt immer sagen „genieß die Zeit mit deinem Kind, sie vergeht so schnell„. Ich habe das überhaupt nicht verstanden und fand es nervtötend, weil doch da so viele, gemeinsame Jahre vor einem liegen.
Aber es stimmt, was meine Mama immer sagte… mit Kindern rennt die Zeit schneller. Ich habe nicht mal ansatzweise eine Ahnung, wo die letzten 15 Jahre geblieben sind.
Vermutlich fühlt sich so die Formel 1 für Emotionen an.
Du hast 3 Kinder Denise und hast schon mal losgelassen und ich weiß, Du bist genau selbstständig und mutig und trotzdem voller Ängste, wie ich.
Macht man sich bei 3 Kindern immer wieder neu Gedanken? Ist es der immer wieder gleiche Prozess voller Ängste oder hören sie einfach auf, weil man es vielleicht gewöhnt ist?
Manchmal habe ich die Vorstellung, wir leben irgendwann in einer Tiny-House Kommune und feiern mit unseren Kindern unter bunten Lampions Grillfeste. Hin und wieder mag ich es, mich in einer rosaroten Blase der Phantasie zu verlieren. Es lässt mich lächeln…
Und um auf die Frage Deines letztens Briefes einzugehen, was das Thema „jüngere Männer“ angeht… ich bin völlig offen, aber nicht für eine ernsthafte Beziehung. Ich glaube, ein jüngerer Mann tut tatsächlich sehr gut, weil es auch im Kopf jung hält, aber ich möchte die Hoffnung nicht verlieren, dass es auch Männer meiner Generation gibt, die im Kopf junggeblieben sind. Ich mache mir weder auf die eine, noch auf die andere Art Druck, weil es ein verdammt glücklicher Umstand ist, dass ich einen Mann nicht brauche um mich vollständig zu fühlen. Ich bin also wirklich extrem gelassen, was unsere Männerwelt angeht.
Hast Du Dich denn mit jüngeren Männern ausprobiert? Wäre das für Dich in Frage gekommen?
Ich freu mich auf Deine Antwort und schicke Dir eine dicke Umarmung aus Leipzig.
Deine Andrea
Den Briefwechsel mit Denise von Frl. Ordnung findet Ihr übrigens hier und hier.
Die Antwort von Denise auf diesen Brief findet Ihr hier.
Liebe Andrea,
gerade genau mein Thema.
Unser Sohn – immerhin schon 24, somit wurde es auch Zeit, ist dieses Jahr ausgezogen. Wenn du nur ein Kind hast ist dieser Schmerz sehr tief. Es hat mich zerrissen und tut immer noch weh. Allerdings wohnt er zunächst, bis zum Ende des Studiums nur 7 km von uns entfernt, somit sehe ich ihn ca. alle 14 Tage und kann mich so langsam auf eine Große Trennung einstellen. Oft kommen mir noch Tränen, aber ich würde niemals klammern – dafür liebe ich ihn zu sehr.
Das Leben zu zweit müssen wir jetzt neu finden und wieder dort ansetzen wo wir auch am Anfang angefangen haben, damals als es auch nur uns zwei gab. Eine spannende Zeit ….
Ich wünsche dir alles gute und genieße die Zeit mit deinem Sohn noch ausgiebig.
Liebe Grüße
Susanne
Die Sache mit dem Loslassen, da tat ich mich auch sehr schwer..es kostet mich immer wieder Überwindung, meine Tochter am Bahnhof zu verabschieden, obwohl ich genau weiß, dass sie immer wieder nachhause kommt. Und was aus Ihr inzwischen geworden ist, eine Person, die voller Lebensenergie und Tatendrang strotzt. Und das freut mich sehr!
Liebe Andrea,
ich habe 3 Kinder, die inzwischen 27,37 und 40 sind.
Aus dieser Erfahrung habe ich gelernt, dass es bei jedem Kind, das das Nest verlässt,
Genauso schmerzt. Allerdings ist es mir bei meiner Ältesten, die mit 18 in ihr eigenes Leben zog,
trotzdem am schwersten gefallen. Vor allem auch deshalb weil man sich so unglaubliche, z. T. völlig alberne Sorgen macht. Die Frage, die mich am meisten beschäftigt hat, neben dem Schmerz,:
Wird sie zurechtkommen. Wird sie all die Herausforderungen meistern? Ich habe mich allerdings sehr streng diszipliniert und nur nachts in mein Kissen geheult. Meinen Kindern wollte ich es leicht machen zu gehen. Was mir half, war ein kleines Abschiedsritual. Ich habe allen Dreien, als es soweit war, gesagt: „Ich habe Dich lieb und ich bin sicher, dass Du das großartig machen wirst. Ich schenke Dir jetzt Dein eigenes Leben. Und sollte mal was schiefgehen, hier wird immer ein Platz sein, an dem Du neue Energie tanken kannst, um wieder hinauszugehen.“
Alles Liebe,
Gabi
Autor
Liebe Gabi, ganz toll. Hab gerade einen dicken Kloß im Hals und Tränen in den Augen. LG Andrea
Hallo Andrea,
dieses Abschiednehmen, Loslassen steht mir genau heute in 4Wochen bevor. Mein Großer wird dann ca. 300km entfernt von uns sein Studium beginnen. Ich bin unheimlich stolz auf mein Kind und weiß, dass er das selbständige Leben gut wuppen wird. Aber ich bin auch sehr traurig, dass ein Lebensabschnitt vorbei ist, er wird mir sehr fehlen , die Gespräche mit ihm besonders. Aber so soll es auch sein. Er ist 20 und muss jetzt seinen Weg gehen . Sein Bruder wird noch mind. 4Jahre zu Hause wohnen, also wird es nicht allzu schlimm werden. Ich war übrigens auch 18, als ich von heute auf morgen mein Elternhaus verließ. Von Ost nach West, geflüchtet über Prag. Gedanken , wie meine Eltern sich dabei fühlen , habe ich mir auch damals nicht gemacht.
Liebe Grüße Kathrin