Der Teller…

Der Teller…

Langsam dämmert es. Der Tag findet sein Ende. Ich habe diesem Tag nicht einmal Beachtung geschenkt. Er ist an mir vorübergezogen, als würde unsere Welt gar nicht existieren.

Mein Rücken tut weh. Ich sitze auf dem Teppichboden in gekrümmter Stellung und schreibe. Meine Freundin Bine fragte mich letztens, warum ich eigentlich überhaupt ein Sofa hätte. Ich sitze gern auf dem Teppich, auch wenn meine 43 Jahre sich an dieser Stelle immer öfter bemerkbar machen.

Ganz tief bin ich versunken. In meiner eigenen Gedankenwelt. Ich nehme immer wieder Geräusche aus der Küche wahr, aber ich schenke ihnen nicht wirklich Beachtung. Vermutlich schmiert sich mein Sohn gerade ein Brot.

Ich verlasse das Wohnzimmer und weiß schon gar nicht mehr warum. Ich komme zurück. Auf dem Couchtisch steht ein Glas Wein und ein Teller mit Thunfischpasta. Er hat meinen Kummer gespürt. Hat sich in die Küche gestellt und mit Hilfe von Youtube Pasta gekocht und eine Flasche Wein geöffnet. Wortlos hat er den Raum verlassen… hat einfach nur diesen Teller und dieses Glas hingestellt. Er hat sich um mich gekümmert. In einem Moment, in dem ich es mehr gebraucht habe, als er sich das vermutlich vorstellen kann.

Tage später wird mir bewusst, dass wir zum allerersten Mal die Rollen getauscht haben. Das mein Wunsch, ihm Empathie mit auf den Weg zu geben… erfüllt ist. Das es der erste Moment war, in dem ich etwas zurückbekam… wenn man von der einfachen Tatsache absieht, dass man das eigene Kind bedingungslos liebt und das dies schon Geschenk genug ist und trotzdem war dieser Teller auf dem Tisch an dem Abend alles, was ich brauchte, um zu wissen das ich an mir nicht zweifeln muss.

Am nächsten Morgen räumte er die Küche auf, wischte die Arbeitsflächen ab, sortierte den Müll und fuhr mit mir zum einkaufen. Ich strich mit den Händen über das Holz der Küche und mein Herz wollte platzen vor Stolz und Mutterliebe. Im Auto bedankte ich mich, sagte ihm das ich ihn liebe und er antwortete „Mama, gewöhn dich nicht dran… die Hunderunde heute Abend machst Du und warum zur Hölle will dieser Schäuble die Sommerferien kürzen?“. Ich musste lachen. Bähm… innerhalb von Sekunden war ich wieder zurück in der Realität und unendlich glücklich darüber.

Vor kurzem habe ich mitten in der Nacht Johanna Disselhoff angeschrieben. Es war notwendig. Ich kenne sie schon länger aus einer Podcast Empfehlung und mag sie sehr. Ich buchte eine Therapiestunde bei ihr, die unfassbar hilfreich war, aber auch vollkommen ausreichte. Mir war es wichtig mit jemandem zu sprechen, der einen vollkommen neutralen und klaren Blick hat. Jemand, der nicht gesteuert ist von Emotionen. Johanna, Danke für Deine unglaublich gute Hilfe in diesem Moment.

Ein paar Tage später schickte sie mir eine Empfehlung für eine Dokumentation auf Netflix. Brené Brown. Brené Brown? Wer zur Hölle ist Brené Brown? Ich suchte die Dokumentation, fand sie, schaute sie in einem Rutsch durch, (vielleicht musste ich auch ein bisschen weinen dabei) und wusste, dass ich wieder nach vorne gehen kann. Aus der Deckung kommen. Wieder ich selbst sein. Durchatmen. Weitermachen.

Brené Brown ist führende Sozial-Forscherin auf dem Gebiet von Scham, Verletzlichkeit, Mut und Selbstwertgefühl.


Scham ist das äußerst schmerzhafte Gefühl bzw. die äußerst schmerzhafte Erfahrung zu glauben, dass wir fehlerhaft sind und deshalb keine Liebe und Zugehörigkeit verdienen. … Scham untergräbt den Teil von uns, der glaubt, dass wir uns ändern und es besser machen können. Brené Brown


Dabei geht es darum dass Verletzlichkeit und Selbstwertgefühl zusammengehören. Selbstwertgefühl schließt Verletzlichkeit nicht aus und umgekehrt. Das, was sie dort auf der Bühne sagte, war für mich so wegweisend, dass ich all meine geschriebenen Texte über meine Ehe löschte. Die Andrea vor 4 Jahren hat mit der Andrea heute nichts mehr zu tun. Und über Dinge, über die ich vor Jahren schrieb, würde ich heute so nicht mehr schreiben. Selbst, wenn es in der Sache vielleicht richtig war und selbst, wenn ich dachte reflektiert zu sein… ich war es nicht. Wir haben den Punkt eines respektvollen Umgangs miteinander erreicht. Wir lieben unseren Sohn. Das ist es, was zählt und ich bin an dem Punkt angelangt, an dem ich mich für die Zeit meiner Ehe bedanken kann.

Manchmal kann es ein Teller voller Nudeln sein, der einfach auf einem Tisch neben einem Glas deines Lieblingsweines steht, der hilft und dann gibt es auch manchmal diesen einen Menschen, dem du zuhörst und der dich mit seiner Kraft aus einem Loch nach oben zieht und auf einmal kannst du den Himmel wiedersehen. Brené Brown war… in diesem Moment… dieser Mensch für mich.

Ich habe mir 2 Bücher von ihr gekauft und ich liebe sie. Ich liebe es darin zu lesen, zu verstehen und zu lernen. All das ist weit entfernt von esoterischem Getue und leeren Versprechungen von vollkommener Glückseligkeit. Es sind ihre ganz eigenen Geschichten. Geschichten vom Versagen, von Scham, vom Umgang mit Öffentlichkeit und Hass, der einem entgegenschlagen kann. Vom sich verstecken und wieder rauskommen und weitermachen. Genau das, was ich brauchte.

Es gibt diese Momente, da holt einen das Leben von hinten ein. Es überrollt dich ohne Vorwarnung. Es fühlt sich unfair an. Nicht richtig. Blöd. Wie am Abgrund stehen. Niemand kann einem das abnehmen. Oder vielleicht doch. Vielleicht kann man eine Armee hinter sich aufstellen… aber am Ende bleibt immer, dass man mit sich selbst klarkommen muss. Mit Ängsten, Scham, Wut, Verletzlichkeit, Trauer… also dem kompletten Zusammenspiel aus negativen Emotionen.

Ein kleines Beispiel:

Vor ungefähr 15 Monaten wurde mein Sohn Opfer eines Raubüberfalls. Auf das, was dann an Ängsten folgte, möchte ich an dieser Stelle nicht näher eingehen. Nur so viel, es hat mich – als Mutter – innerlich zerrissen.

Die Täter laufen frei in Leipzig herum. Er sieht sie hin und wieder und weicht der Situation aus. Wir haben Monate nicht mehr darüber gesprochen.

Ich glaube vor ca. 10 Tagen erreichte uns die Ladung zum Gerichtstermin im Juni. 1,5 Jahre später. An einem Punkt, an dem er damit abgeschlossen hatte, muss er erneut in die Arena. Wir, als Eltern, stehen als „geschlossene Armee“ hinter ihm, können ihm seine Aussage aber nicht abnehmen und auch nicht die erneute Angst, die damit einhergeht. Wir können nur da sein.

Fast täglich telefoniere oder Skype ich im Moment mit meinen Freundinnen, meiner Familie, meiner Schwester. Unglaublich wieviel Zeit aktuell in Telefonate fließt… das ist absolut 90iger. Jedenfalls sind wir uns alle einig darüber, dass es eine Zeitrechnung vor und eine Zeitrechnung nach Corona gibt.

Dabei ist nicht mal alles schlecht, wenngleich es sich in den ersten Tagen, aus den unterschiedlichsten Gründen, wie ein Untergang angefühlt hat. Extremsituationen bringen Abgründe hervor, aber auch das genaue Gegenteil.

Ich war schon immer vorsichtig bei zu viel „wir haben uns alle lieb“. Meine persönliche Erfahrung dazu ist, dass es das – in dieser Form – kaum gibt (davon schließe ich Familie und Freunde aus… hier mache ich sehr wohl die Erfahrung von Liebe). Es gibt Respekt und wertschätzenden Umgang, aber wir sind und bleiben auch eine Ellenbogengesellschaft. Daran ändert auch Corona nichts. Ein Blick auf unsere gesellschaftliche Historie genügt.

Aber all das wissen wir. Das ist nichts neues. Was viel wichtiger ist, ist das Gegenteil. Das Gegenteil ist es, was mich motiviert, was mir persönlich Kraft gibt. Der Akku auf dem „Vertrauen“ steht, war ziemlich leer… aber da scheint wieder Strom aus der Dose zu kommen… er füllt sich wieder.

Jeden, wirklich jeden Tag, passieren richtig viele Kleinigkeiten, die so wunderschön sind, dass ich richtig merke, wie ich wieder öfter mit einem Lächeln auf dem Gesicht durchs Leben laufen kann.

Das fängt bei den grünen Bäumen vor meinem Fenster an und hört bei den Kirschblüten an der Kreuzungsecke wieder auf. Ich treffe immer wieder auf unglaublich freundliche und engagierte Supermarktmitarbeiter. Mich erreichen Briefe, Karten, Päckchen, Mails. Ganz oft aus heiterem Himmel. Da bedanken sich Frauen dafür, dass sie mich seit Jahren begleiten und das sie daraus Kraft ziehen. Das wird nie etwas sein, was ich begreifen werde und trotzdem ist es natürlich ein ganz wunderbarer Umstand.

Unser geplanter Inner Balance Workshop auf Mallorca ist ebenfalls eines dieser wunderbaren Beispiele. Hier stecken wir inmitten von unterschiedlichen Regelungen der Länder fest und Reisewarnungen, die es noch nicht gibt. Unsere Flüge für Anfang Mai sind nach wie vor bestätigt. Die Finca allerdings lässt sich nicht stornieren, sondern lediglich umbuchen oder wir können auf eine Gutscheinregelung zurückgreifen.

Wir haben lange im Team überlegt, wie wir damit umgehen können und haben uns für offene Kommunikation entschieden. Das heißt, dass wir gemeinsam mit unseren Teilnehmerinnen Lösungen absprechen und versuchen auf den jeweils persönlich Rahmen einzugehen. Natürlich ist das manchmal eine Herausforderung… aber, wenn ich eins sagen kann, dann das uns so unglaublich viel Miteinander entgegenschlägt, dass es anfängt wieder Spaß zu machen.

Es ist unglaublich berührend, was da teilweise zurückkommt und wie aus Menschen, die sich fremd sind, eine Art Teamgeist entsteht. Das ist eine ganz wunderbare Erfahrung. Für die Sylt-Workshops ist es ja ganz ähnlich gelaufen, da waren aber die Rahmenbedingungen deutlich klarer, als bei einer aktuell geplanten Reise ins Ausland.


Was unterm Strich bleibt ist die Tatsache, dass ich wieder Mut habe in die Zukunft zu blicken und mich vielleicht doch wieder traue diesen einen Schritt mehr zu gehen… genau den, der mir vielleicht gerade Angst macht. Vielleicht schaffe ich es doch wieder über mich hinauszuwachsen.


Im Fernsehen habe ich eine Reportage über Königin Margarete von Dänemark gesehen. Würde mein Fernseher sprechen können, hätte er mich wahrscheinlich ordentlich aufgezogen, weil ich völlig verzückt das Geschehen verfolgte. Was ist Königin Margarete denn bitte für eine großartige Frau? Unglaublich, was sie alles auf die Beine stellt und das mit mittlerweile 80 Jahren. Wenn man sich daran kein gutes Beispiel nehmen kann, dann weiß ich es aber auch nicht.

Meine persönliche Königin Margarete in Deutschland ist Angela Merkel. Der Tag, an dem sie abdankt, ängstigt mich. Die Corona Krise hat zum allerersten Mal Politik für mich nahbar gemacht. Keine dieser Entscheidungen möchte ich treffen.

Völlig egal, ob falsche oder richtige Wege eingeschlagen werden… sich jeden Tag an die Front zu stellen und neu justieren zu müssen, verdient meinen absoluten Respekt. Angela Merkel ist für mich der Inbegriff von Souveränität. Für mich ist sie wirklich ein Vorbild und ich würde sie sehr gern mal treffen und fragen, ob sie in diesen „Männerrunden“ zwischendurch nicht einfach nur mal ausrasten möchte.

Ich wünsche euch auch diese Menschen. Die, die mit euch lachen und weinen. Die, die Runden um den See mit euch laufen und die, die euer Smartphone mit Nachrichten bombardieren, anrufen und vor Sorge fast in Ohnmacht fallen. Die, die klingeln und Essen vorbeibringen. Die, die Briefe und Päckchen schicken oder Mails und selber über sich hinauswachsen. Die, die dafür sorgen das du du selbst bleiben darfst oder immer wieder dorthin zurückfindest, wenn du gerade in die falsche Richtung läufst.

Und dann wünsche ich DIR! diesen einen Menschen, der für DICH! wortlos ein Glas Wein und einen Teller Pasta auf den Tisch stellt…


Eure Andrea

6 Kommentare

  1. Wiebke
    19. April 2020 / 8:04

    Liebe Andrea,

    Gänsehaut, Tränen und Zustimmung….

    Und die einfach Danke!!!

    Und ja, ich habe 2❤Menschen, die mir auch Teller hinstellen.
    Meine Tochter und meinen Mann

    Bleib gesund und pass auf deine Herde auf.
    Fühl dich umarmt und fest gedrückt.

    Wiebke

  2. 19. April 2020 / 11:16

    Pasta hat für mich absolut eine neue Bedeutung bekommen. Herzergreifend, es ist immer wieder schön zu sehen, das wir menschlich sein dürfen…für Euch nur das Beste!

  3. Maria
    19. April 2020 / 11:34

    Liebe Andrea,
    was für ein großartiger Beitrag! Deine Zeilen gehen mir sehr nah.
    Schon länger lese ich leise bei Dir mit und ich saß sozusagen auch in
    Deinem Koffer mit dem Ziel Südafrika. Deinen Schmerz nach der
    Rückkehr konnte ich nur allzu gut nachvollziehen, mir ist es vor
    vielen Jahren mit meinem Traumland USA genauso ergangen.
    Bleib zuversichtlich. Alles wird gut!
    Ich freue mich auf viele weitere Beiträge von Dir 🙂
    Ganz liebe Grüße,
    Tina

  4. Charlotte A. Wagner
    19. April 2020 / 23:41

    Liebe Andrea,
    ich hatte das Glück Angela Merkel auf einer Veranstaltung für weibliche Führungskräfte zu erleben. Gerhard Schroeder war Kanzler. Angela Merkel hatte gerade für Edmund Stoiber 2002 den Platz frei machen müssen. Sie wurde gefragt, wie es ihr danach ging … ihre Antwort werde ich nicht vergessen … ihre Worte : ich bin Physikerin, ich weiß, dass ich es immer wieder versuchen muss, immer wieder.
    Sie ist sehr professionnel, hat aber ihre christliche Menschlichkeit nie verloren. Sie muss als Kanzlerin Entscheidungen treffen, die viele Menschen bei uns, in Europa und der Welt betreffen. Sie weiß, dass sie es nicht allen recht machen kann. Sie ist eine großartige Persönlichkeit und Kanzlerin.

  5. bolobabs
    20. April 2020 / 6:58

    Ein wunderschöner Text,ehrlich und tiefgründig.Ich konnte ganz genau diesen Boden der momentanen Gefühlsebene mitbeschreiten.Ein Spiegelerlebnis,( ich hoffe mich verständlich ausgedrückt zu haben). Gefühle und Empfindungen suchen oft nach treffenden Worten. Deine Zeilen hatten die beste Wortwahl..

  6. 24. April 2020 / 21:39

    Liebe Andrea!

    Ja, Brené Brown ist toll!!!

    „Die Gaben der Unvollkommenheit“, ist ein Buch von Brené Brown, das mich im Sommer letzten Jahres zu einer Art Challenge mit mir selbst motiviert hat. Ich habe es intensiv durchgearbeitet und auch, wenn ich als Familientherapeutin schon viel Selbsterfahrung hinter mir habe, hat mich das noch mal persönlich weitergebracht.

    Sätze wie “ Wo Perfektionismus herrscht, lauert immer Scham im Hintergrund“, sollte man sich einrahmen!

    Ganz liebe Grüße und noch viel leckere Pasta mit gutem Wein!
    Iris

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