Briefwechsel: Entwicklungshilfe oder Partner? Bin ich ein tragischer Fall?

Briefwechsel: Entwicklungshilfe oder Partner? Bin ich ein tragischer Fall?

Liebe Denise,

ich wünsche Dir einen wunderbaren Sonntagmorgen in Holland und ich freue mich sehr, dass ich wieder ein bisschen Zeit für unseren Briefwechsel  finden konnte.

Ich habe gesehen, dass Du das Wochenende in einem Tiny House verbringst und fühle mich sehr angesprochen. Ich weiß nicht, ob ich das wirklich könnte… mich wirklich so extrem zu reduzieren… also auf Dauer, aber irgendwie macht mich dieser Gedanke froh.

Meine Oma hat früher immer gesagt, dass sie nichts weiter braucht, als ihre kleine Wohnung, ihren Fernseher und einen vollen Kühlschrank. Ich konnte das als Kind nicht wirklich verstehen, aber mittlerweile kann ich diese Empfindung sehr gut nachvollziehen. Die Prioritäten über das, was man vom Leben noch möchte… vielleicht sogar, wie ich unsere Welt mal verlassen möchte… verschieben sich mit jedem Jahr, was ich älter werde.

Wie Du ja weißt, war vergangene Woche unser Konfettihaus Workshop und ich bin immer noch beeindruckt von uns Frauen. Damit meine ich nicht nur die Teilnehmerinnen und das Team. Ich meine uns Frauen insgesamt. Ich bin nämlich davon überzeugt, dass es da draußen noch unzählige, wunderbare, weibliche Wesen gibt, die solche Netzwerk-Runden bereichern würden.

Dieses Wochenende ist seit langem das erste Wochenende ohne irgendeinen Termin oder eine Verabredung. Ich habe am Freitag gemerkt, wie bitter nötig das ist. Ich schlafe ganz viel, bin im Dauer-Schlabberlook anzutreffen und sehe aus, wie einmal durch den Wolf gedreht. Und obwohl ich weder irgendwas oder irgendjemanden vermisse, saß ich gestern auf meinem Sofa und hab mich gefragt, ob mit mir was nicht stimmt?

 

Bin ich ein tragischer Fall?

 

Also, bin ich seltsam, weil ich keine Lust habe mich zu binden?

Würde ein Mann sich jemals so was fragen?

Warum haben Single Frauen einen eher negativen Beigeschmack, während es bei Männern nach cooler Unabhängigkeit riecht?

Ich war vergangene Woche in der Stadt unterwegs und auf einem riesengroßen Plakat stand, dass Bradley Cooper und Irina Shayk sich getrennt hätten. Angeblich hat er nun keine Lust auf eine neue Beziehung, sondern möchte sich auf seine berufliche Karriere konzentrieren. Früher hätte ich gedacht… „was für ein Idiot… saudumme Ausrede… er findet einfach nur niemanden“. Heute weiß ich… das kann tatsächlich so sein. Bzw. das ist so, weil ich selber so bin. Ich habe so viel mit mir und meinem Leben zu tun, dass ich einen festen Partner irgendwie anstrengend empfinden würde.

Interessanterweise habe ich dazu einen Artikel im Spiegel gelesen. Dort stand, dass Männer in Beziehungen besser aufgehoben sind, weil sie dadurch geerdet werden, aber für Frauen ist es oft umgekehrt. Im Übrigen darf man das nicht falsch verstehen… es geht nicht darum ohne Spaß und Liebe durchs Leben zu gehen. Es geht – für mich – eher um die Frage, ob ich wirklich einen Partner an meiner Seite haben will oder ob mir ein „lockeres Miteinander“ reicht.

Auf unserem Workshop habe ich mein 59-jähriges „Ich“ kennengelernt. Zumindest hoffe ich, dass das mal so sein wird. Eine beeindruckende Frau mit viel Spaß und Interesse am Leben und sehr genau wissend, was sie will und was sie nicht will… aber ohne dabei verbittert zu wirken. Eine Single Frau OHNE! negativen Beigeschmack, aber dafür mit dem coolen Geruch der Unabhängigkeit und Spaß am Leben.

Was mir daran so gefällt?

Dieses sich selbst zu genügen. Sich nicht über einen Menschen an der Seite zu definieren. Sich zu allererst über sich selbst zu definieren und den Partner an der Seite als Add On zu sehen. Also jemand, der die eigene Definition vielleicht noch ein Stück besser macht bzw. vervollständigt. Ich mag die romantische Vorstellung, dass es da draußen vielleicht jemanden gibt, der mich ergänzt… einfach nur ergänzt und zwar ohne jeden Kompromiss.

Philipp Poisel sagt es in einem seinem Lied „ich will nur…“ sogar noch ein bisschen treffender:

 

…die mich so vollendet… die mich so bewegt…

 

Dabei ist mir gerade aufgefallen, dass ich ihn schon viel zu lange nicht mehr gehört habe. Ich lasse Dir das wunderbare Video zu diesem wunderbaren Song einfach mal hier. 

 

 

Jedenfalls haben wir im Workshop über Ziele gesprochen. Ja… gähn… aber Ziele sind nun mal ein wichtiges Thema für jeden Menschen. Die kleinen, wie die großen. Und Ziele bekommen oftmals eine ganz andere Dynamik, wenn man sich traut sie auszusprechen. Bea, wird mit ihren 59 Jahren, noch in die Entwicklungshilfe gehen. Das will sie eigentlich schon tun, seitdem sie eine junge Frau ist. Aber, wie das so ist… manchmal vergessen wir unsere Träume.

Ich habe sie angeguckt während sie erzählte und sah mich selbst. Auf einmal wurde mir klar auf welchem Weg ich mich befinde, warum all die Reisen so wichtig für mich sind. Warum Afrika mein Herz so berührt. Langsam formt sich da etwas am Horizont und es fühlt sich richtig richtig gut an dieses Ziel vor Augen zu haben.

Dabei spielen auch meine #glücklichmacher vom Freitag zum Thema Geld und Frauen eine große Rolle. Wir, also Du und ich, hatten uns ja im vergangenen Jahr auch schon darüber unterhalten. Wie möchten wir im Alter mal leben? Vielleicht sogar in einem Tiny House, also etwas, was uns vielleicht gänzlich unabhängig macht?!

Vielleicht beantwortet das auch die Frage aus Deinem letzten Brief zum Thema Loslassen. Ich glaube wirklich vorbereitet ist man nie darauf, wenn Kinder gehen… also aus rein emotionaler Sicht. Aber ja, ich bereite mich darauf vor und bin dabei einen Rahmen zu schaffen, in dem ich für mich leben möchte und dieser Rahmen beinhaltet die ganze Welt.

Im Grunde kann ich selber gar nicht glauben, dass ich für mich an diesem Punkt bin. Das ich das Leben so spannend finde, dass mir eine feste Partnerschaft herzlich egal ist. Und wir erinnern uns… 2015 lag ich – wortwörtlich – am Boden… heulend, mit Rotznase und Atemnot. Ich war fest davon überzeugt, dass mein Leben ohne meinen Mann keinen Sinn macht und das ich ab sofort der einsamste Mensch der Welt sein würde.

Mir ist es tatsächlich auch egal, wie andere Menschen das empfinden. Oder ob ich vielleicht irgendwann mal als schrullige Alte abgestempelt werde. Vielleicht werde ich ja sogar schrullig… vermutlich bin ich das sogar schon an der ein oder anderen Stelle. 

Am Freitag war ich bei der Post. Vor mir war eine alte Frau. Sie muss so um die 90 gewesen sein. Sie fuhr so eine Gehhilfe vor sich her und wollte ein Paket abholen. Das war richtig schwer dieses Paket. Ich beobachtete die Situation. Die Dame am Postschalter half ihr und die alte Frau hatte so richtig Spaß. Ich glaube, ich habe sie richtig angestarrt. Mir gingen 1000 Gedanken durch den Kopf. Ob sie wohl völlig alleine ist und warum niemand dieses Paket für sie abholt, aber vielleicht will sie das ja auch gar nicht, vielleicht ist es wichtig für sie vor die Tür zu kommen und noch Dinge alleine zu schaffen. Sie sah wirklich gebrechlich aus, aber kein Stück unglücklich. Ich war kurz davor sie anszusprechen… ich hätte mir sehr gern ihre Geschichte angehört… habe mich dann aber nicht getraut. Aber, wenn ich, wie sie… mit 90… noch genauso freudestrahlend am Postschalter stehe (trotz ewig langer Schlange), dann ist mein Leben wohl sehr erfüllt gewesen. 

Weißt Du, ich habe nicht bewusst entschieden „alleine“ bleiben zu wollen. Und „alleine“ ist ja auch wieder eine Sache der Definition. Gucke ich aber auf die Ereignisse der letzten Jahre zurück, dann war diese Entwicklung sogar unausweichlich. Ich bin unglaublich reich beschenkt worden. Ich durfte Ehefrau sein, ich darf Mutter sein und nun darf ich einfach ich sein.

Ich hatte ja schon erzählt, dass wir länger nach Südafrika gehen… also länger, als der klassische Urlaub. Und ich weiß jetzt sehr genau, was ich will. Vor Ort an meinem Englisch weiter arbeiten, mich sozial engagieren und die Natur fotografieren. Auch hier konnte ich meinen Fokus weiter eingrenzen. Das ist wichtig, weil ich in knapp 10 Tagen mit meinem Fotografiestudium beginne.

Die Frauen bei unserem Workshop haben in mir nochmal eine ganze Menge bewegt. Von 35 bis Anfang 60 war jedes Alter vertreten. Es war so beruhigend in die Zukunft sehen zu können und festzustellen… da kommt noch ganz viel. Wir alleine sind in der Lage zu entscheiden, wohin unsere Reise geht und wie intensiv sie sein soll. 

 

Bin ich ein tragischer Fall?

 

Oh nein!

 

Die Frage sollte eher lauten… bin ich ein glücklicher Fall?

 

Vielleicht ist es so, weil ich wirklich alles ausprobieren durfte. Ich habe meine Zwanziger wild und frei genossen. Ich war lange verheiratet und ich glaube, ich war sogar glücklich verheiratet und jetzt konnte ich in aller Ruhe und Intensität zu mir selbst zurückfinden und weiß natürlich heute viel besser, was ich NICHT!!! mehr will. Ich konnte aus allen Stationen meines Lebens, den für mich, besten Weg herausfiltern. Vermutlich hat mein Mann das schon deutlich früher erkannt und bevor ich ihn verlassen konnte, hat er bereits einen Ausweg gesucht und für mich den Weg frei gemacht.

In der Trennungsphase hatten wir viele Gespräche über das „warum, weshalb, wieso“ und er meinte, dass ich mich zu weit von ihm weg entwickelt hätte. Ihm reichte seine solide Basis. Mich hat das tatsächlich nie gestört, aber ich glaube meine Denkprozesse und der Wille zur Umsetzung waren zu anstrengend… für ihn. Es ist immer ganz witzig für mich, wenn ich ihn hin und wieder mal sehe… es fühlt sich an, als wären wir Lichtjahre voneinander entfernt. Jeder lebt auf seinem Planeten und dazwischen gibt es nichts. Wir kommen gut miteinander klar, aber das ist es auch schon. Wahnsinn, was aus 16 Jahren Ehe werden kann.

Nach den Sommerferien werde ich mich endlich meiner Dating-Kolumne widmen. Ich freue mich sehr darauf aus dem Nähkästchen zu plaudern und ein wenig Gesellschaftsstudie über Männer zu betreiben bzw. über das Verhältnis zwischen Männern und Frauen und welche Rolle Sex dabei spielt. Welche Rolle Sex für mich spielt. Spielt Sex mit über 40 überhaupt noch ne Rolle (hahaha).

Als ich mich mit 14 zum ersten Mal Knall auf Fall verliebt hatte, war ich davon überzeugt, das würde der „Mann“ meines Lebens werden. Meine Mama sagte damals zu mir:

 

„Andrea, warten wir mal ab… und es ist immer besser sich mal auszuprobieren“.

 

Vor ein paar Jahren sagte ich dann zu ihr…

 

„Mama, du hattest völlig recht… aber ich wusste gar nicht, dass ich mich so viel ausprobieren muss“…

 

Die kommenden Briefwechsel dürften also weiter spannend bleiben.

Ich wünsche Dir einen fantastischen Sonntag und freu mich auf Deine These zum Thema Partnerschaft… denn an diesem Punkt könnten wir ja unterschiedlicher nicht unterwegs sein.

Wie sieht Deine Vorstellung von Zukunft aus und welche Rolle spielt dabei ein Partner?

Die Antwort von Denise findet Ihr übrigens hier.

 

Deine Andrea

 

4 Kommentare

  1. 23. Juni 2019 / 7:52

    Ein toller Briefwechsel! Und absolut recht. Nur weil man als Frau/Mann auch mal seine Zeit braucht, eine Zeit lang ungerwegs ist, heißt das noch lange nicht, dass es einen zum tragischen Fall macht. Vielmehr, dass man die Zeit mit sich selber genießen kann, so schöne Sachen erleben kann. Auf deine Dating Kolumne bin ich ja jetzt schon gespannt!

    Gruß

  2. IdaCharlotta
    23. Juni 2019 / 9:55

    Einen wundervollen Sonntagmorgen liebe Andrea, ein sehr emotionaler aber auch klarer, deutlicher und ehrlicher Briefwechsel. Ich liebe deine Offenheit und deine Art „Frau“ zu sein, weiter so. Na, das wird ja super Mega spannend, Fotostudium, Südafrika und deine Dating Kolumne, großartige Themen, tolle Ziele. Ach ja, schrullig wirkst Du ganz und gar nicht ???

  3. Chawa
    23. Juni 2019 / 13:47

    Übrigens ein Partner ist auch Entwicklungshilfe.

  4. Gabi
    25. Juni 2019 / 10:05

    Hallo Andrea,
    Ich lese schon eine Weile deinen Blog und folge euch beiden auf Instagram.Jetzt muss ich mal ein dickes Dankeschön sagen,euer Briefwechsel ist herrlich und ihr macht soviel Mut mit allem was ihr schreibt und teilt. Danke und gerade dieser Brief bringt es ganz herrlich auf den Punkt!
    ToiToiToi für alles was da kommt.
    LG Gabi

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